Für die einen ist es ein Freitag, wie jeder andere, doch für Manu ist heute ein besonderer . Heute würde sie endlich mal in Ruhe ihren Kurs durchführen können, wenn alles klappte.
Sie verteilt die Thera-Bänder auf den Matten für ihren Elf-Uhr-Kurs. Natürlich kommen nicht alle, die sich angemeldet hatten, aber dass sich gerade einmal vier gebeugte Trauergestalten durch die Tür schleppen, ist ein Negativrekord.
»Wo ist denn der Rest?«, fragt sie.
»Akuter Anfall von Lustlosigkeit«, sagt Tobi und grinst seine Kollegen dämlich an.
»Aha, ist mir egal. Ihr macht ja nicht für mich Sport. Dabei geht es nur um eure Gesundheit.«
Es sollte ihr wirklich egal sein und doch geht es ihr immer an die Nieren, wenn sich ihre Sportler weigern mitzumachen. Macht sie etwas falsch, fragt sie sich dann. Warum sind sie überhaupt hier, wenn sie immer nur nörgeln?
»Boah, wieder diese stinkenden Bänder«, murmelt Liam.
Manu beißt die Zähne zusammen und atmet tief durch. »Gleich«, denkt sie und schaut zu dem Basketball, den sie neben ihre Bluetooth-Box gelegt hat. Heute würde sie etwas anderes ausprobieren, mehr Ruhe und Konzentration in den Kurs bringen. Vielleicht ist es ja ganz gut, dass heute nur Tobi, Liam, Frank und Christian da sind.
»Also gut, erwärmen wir uns erstmal. Macht mal alle eine Rolle vorwärts und dann noch eine rückwärts.«
»Hä?« Christian schaut sie ungläubig an. Nur Frank geht in die Knie, schiebt die Matte vor sich her, lässt sich fallen, landet auf dem Rücken und wieder auf den Beinen. Doch er hat noch ordentlich Schwung, beinahe fällt er kopfüber nach vorn.
»Super. Und nun noch die andere Richtung.«
Frank rollt, die anderen zieren sich, aber letztendlich beugen sie sich und beginnen ihre halbherzigen oder ängstlichen Versuche.
»Also, ein Zehnjähriger bekommt das ohne Probleme hin«, sagt Manu mit einem fiesen Grinsen. Sie weiß jetzt, dass sie heute für Blödsinn bereit sind. Mal sehen, ob sie ihren Plan wirklich umsetzen kann.
Sie nimmt den Basketball auf und beginnt langsam zu dribbeln.
»Ich möchte, dass ihr im Takt des Balls eure Schultern hebt und senkt.«
Der Ball schlägt auf den Boden auf und springt zurück in ihre Hand.
Liam stöhnt. Er hat besonders Probleme mit der Schulter, aber jede Übung, die ihm guttun würde, schmerzt so, dass er sie gar nicht erst versucht.
»Komm Liam, versuch’s«, bittet sie ihn und er nickt. Zaghaft hebt er die Schulter und lässt sie wieder fallen.
Der Ball schlägt auf den Boden auf und springt zurück in ihre Hand.
»Es knirscht«, beschwert er sich.
Sie ignoriert ihn. »Konzentriert euch auf den Ball. Ich möchte, dass ihr genau im Takt seid.«
Der Ball schlägt auf den Boden auf und springt zurück in ihre Hand.
Manu beobachtet die vier. Sie bemerkt, wie ihre Augen schwer werden, sie entspannen sich, aber trotzdem bewegen sie ihre Schultern ordentlich, werden sogar immer besser.
Der Ball schlägt auf den Boden auf und springt zurück in ihre Hand.
»Fühlt ihr euch schon warm?«, fragt sie.
Kein Murren, keine dummen Kommentare, nur ehrliche kurze Antworten.
»Noch nicht.«
»Na gut, dann lassen wir jetzt die Arme hängen und werden im Takt des Balls einen Seitschritt nach rechts, wieder in die Mitte und einen nach links machen.«
Der Ball schlägt auf den Boden auf und springt zurück in ihre Hand.
Sie beschleunigt den Takt und sie folgen. Es hat funktioniert, der Ball hat sie wirklich hypnotisiert. Wie es aussieht, hatte der Mann auf dem Jahrmarkt recht, als er ihr die beruhigende und gefügig machende Wirkung beschrieb.
»Seid ihr nun warm?«
Sie nicken einheitlich und Manu legt den Ball wieder zurück zur Box.
»Gut, dann nehmt jetzt euer Band und schiebt es euch unter den Fuß.«
Sie kennen die Übung, legen sofort los, ohne dass sie sich hundert Mal wiederholen muss. Überrascht und zufrieden beobachtet sie, wie sie die Arme heben und das Band spannen und wieder entspannen.
Liams Rücken ist leicht gebeugt. »Du wolltest den Rücken gerade machen«, sagt sie und wartet auf seine Standardretourkutsche. »Nee, du willst das!«, doch er nickt und streckt den Rücken.
Das Leben kann so einfach sein, wenn alle schön mitmachen.
»Nun macht mal eine Pause, dann wiederholen wir die Übung.« Doch an Pause denken die vier gar nicht. Nur einmal tief durchatmen, und schon geht es weiter.
»Die Pausen sind wichtig, hört ihr. Übertreibt es nicht!«
Sie nicken, lassen die Arme fallen und warten, dass Manu ihnen einen Startschuss gibt. Doch mit jeder Sekunde, die verstreicht, wird ihr Blick dringlicher. Sie wollen weiter machen!
Dreißig Minuten später schwitzen die vier Sportler, geben alles, ohne Murren und Knurren.
»Super. Jetzt legt euch auf den Bauch, nehmt ein leichteres Band und streckt die Arme aus.«
Sie heben Brustkorb und Beine und beginnen die ausgestreckten Arme auseinanderzuziehen.
»Noch eine Übung und dann habt ihr es geschafft«, sagt Manu, während sich die Jungs auf den Rücken drehen. Ihre Köpfe sind puterrot, die Adern am Hals stehen hervor. Sie werden morgen noch spüren, was sie heute geleistet haben.
Fünf Minuten später hat sie Erbarmen mit ihnen. »Also gut. Wir haben es für heute geschafft. Ihr habt ja auch kaum Pausen gehabt«, sagt Manu und wartet, dass die vier ihre Bänder erschöpft fallen lassen. Doch sie bleiben auf dem Rücken liegen, das Band fest in der Hand und um die Füße gewickelt. Sie strecken die Beine, winkeln sie wieder an.
»Aufhören, hab ich gesagt!«, ermahnt Manu, doch keiner hört auf sie. Sie geht zu Liam, will ihm das Band wegnehmen, doch der dreht sich schnell zur Seite, schützt das Band, als wäre es sein größter Schatz. Dabei hasst er die Dinger doch.
»Steht auf!«, befiehlt Manu, Angst hat sich in ihre Stimme geschlichen. Ist sie zu weit gegangen?
Erleichtert sieht sie zu, wie die vier aufstehen, die Bänder in der Mitte zusammenfalten, doch anstatt sie fallenzulassen, strecken sie die Arme vor sich und ziehen sie nach außen. Die Hände fest um das Gummiband gekrallt.
»Hört doch auf. Ihr seid doch völlig fertig!«
Sie ächzen alle vier, die Köpfe sind nun schon rot wie Tomaten. Manu rennt zu Tobi, dem Schwächsten in der Runde, und stößt mit der Schulter gegen seine Brust. Doch sein Körper ist starr wie ein Brett. Als sie versucht, nach dem Band zu greifen, wehrt er sie ab, stößt sie mit voller Wucht um.
Sie schreit, als ihr Steiß auf dem Boden kracht, dann dreht sie sich zur Seite, sieht den Ball und greift nach ihm, wie nach einem Rettungsring.
»Aufhören!«, schreit sie und knallt den Ball auf den Boden. »Seht auf den Ball!«
Nichts passiert. Die vier dehnen ächzend die Bänder. Tobi beginnt zu zittern, Speichel läuft ihm aus dem Mund und vermischt sich mit Schweiß.
Sie sieht keine andere Möglichkeit, holt mit dem Ball aus, und mit aller Kraft schleudert sie ihn gegen Tobis Brust. Für einen Schrei hat er keine Kraft mehr. Er sackt in sich zusammen und bleibt zitternd auf dem liegen Boden.
Christian und Frank direkt neben ihm reagieren überhaupt nicht. Sie ziehen weiter an den Bändern und lassen locker, spannen, entspannen, spannen …
Manu wirft sich auf den Boden, völlig verzweifelt schiebt sie Tobis Kopf zu sich, legt ihn auf ihre Oberschenkel. Dann endlich hört er auf zu zittern, aber sein Atem wird flacher. Sechs Züge später atmet er gar nicht mehr. In dem Moment schreit Christian auf und fällt.
»Nein, nein, nein«, schluchzt Manu. »Ihr sollt aufhören, hört doch einfach auf!«
Doch sie tun nichts dergleichen. Die letzten beiden ziehen weiter an den Bändern. Die Arme zittern, die Muskeln sind zum Bersten gespannt. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als darauf zu warten, dass auch sie umfallen.
»Ich wollte doch nur einmal einen Kurs ohne Diskussionen.«
Sie wischt sich die Tränen von der Wange und schaut zur Eingangstür. Da steht er, der Mann, der ihr den Ball übergeben hatte. Er streicht sich durch seinen Ziegenbart, wischt sie imaginäre Staubkörner vom roten Jackett und grinst sie an. »Sie haben es dir ja gesagt: Sport ist Mord.«