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Hannes Niederhausen

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Rapunzel, kurzhaarig

Rapunzel saß auf ihrem Bett und spielte unbewusst mit ihrem langen Zopf, während sie angewidert den Geburtstagskuchen auf dem Tisch ansah. Neunzehn. Seit neunzehn Jahren war sie hier gefangen. Neunzehn Jahre! Und die alte Hexe wusste immer noch nicht, dass sie Süßigkeiten nicht ausstehen konnte. Daneben stand eine Schüssel Rapunzelsalat. Sie seufzte. Auch den konnte sie nicht mehr sehen.

Rapunzel ging zum Fenster und sah über den Wald, der den Turm einzäunte. Neunzehn Jahre und kein Prinz in Sicht.

In der Ecke, die ihr als Küche dienen sollte, nahm sie eine Schere aus einer Box. Selbst war die Frau! Sie schnitt ihren Rock ein, nähte ihn mit einer Nadel und etwas Haar so um, dass die beiden Teile ihre Beine umschließen, so wie sie es in den Büchern gesehen hatte und atmete tief durch. Jetzt kam der schwere Teil.

Sie griff zur Schere, kniff die Augen zusammen und nur einen kurzen Moment später klickte es und ihr Zopf viel auf den Boden. Wehmütig sah sie das geflochtene Haar an, nahm es dann auf und knotete es an den Bettpfosten an, der ihr sonst als Winde diente, um die schwere Hexe hochzuziehen. Und wenn die Hexe an ihrem Haar rein und raus kam, dann konnte Rapunzel das schon lange!

Der Abstieg war dann doch schwieriger, als sie dachte und mehr als einmal glaubte Rapunzel, zu fallen. Die Kraft in den Armen ließ bereits nach wenigen Sekunden nach. Die Arme begannen zu zittern. Sie hätte trainieren sollen!

Doch dann schlang sie den Zopf um ihr rechtes Bein, sodass sie mehr oder weniger darauf stehen konnte. Ihre Arme dankten ihr und langsam, ganz vorsichtig, kletterte sie herunter.

»Respekt, alte Frau!«, murmelte Rapunzel, als sie endlich neben dem Beet des Salats stand, nach dem sie benannt war. Sie holte einen Moment Luft und rannte dann in den Wald.

Rapunzel wusste nicht, wie lange sie unterwegs war, als sie endlich eine Lichtung erreichte, auf der ein einzelnes Haus stand.

Qualm stieg aus dem Schornstein, jemand musste zu Hause sein. Das Haus war klein, hatte wohl nur eine Etage, so wie es Rapunzel aus den Büchern im Turm kannte. Und doch war etwas anders, als in den Bildern. Es erinnerte sie an … ihren Geburtstagskuchen? Als sie davor stand, erkannte sie, dass das Haus mit süßen Verzierungen beklebt war, die Wände selbst fühlten sich weich an. Rapunzel brach ein Stück einer Ecke ab und roch daran. Pfefferkuchen? Was für Leute lebten denn in einem Pfefferkuchenhaus?

»Kann ich Dir irgendwie helfen, mein Jungchen?«

Rapunzel schreckte auf. Was für ein Jungchen? Hatte sie ihn übersehen? Die gebeugte Person sah sie an. Rapunzel konnte nicht anders, als auf die riesige Warze auf der Nase zu starren. Für einen kurzen Moment setzten all ihre Gedanken aus.

»Willst du vielleicht einen Tee zu einem Stückchen Haus?«

Die Alte lächelte und Rapunzel sah kurz auf ihre Hand, in der immer noch das Stück Pfefferkuchen lag.

»Entschuldigung, nein. Nein danke.«

»Vielleicht etwas anderes, mein Junge?«

Junge! Wie kam sie denn darauf? Instinktiv begann sie ihren Zopf zu streicheln, griff jedoch ins Leere. Sie seufzte, strich sich durch das kurze Haar und begriff.

»Ich bin kein Junge«, sagte sie trotzig.

»Aber du siehst wie einer aus. Warum solltest du keiner sein?«

»Ich bin es einfach nicht.«

»Wenn du meinst. Aber du solltest dringend etwas zu dir nehmen, Jungchen. Du siehst ja halb verhungert aus. Komm, ich mach dir einen leckeren Kuchen.«

Rapunzel seufzte. Was war das nur mit alten Menschen und den Süßigkeiten?

»Danke nein. Ich mag eher Salat«, antwortete sie, das Jungchen ignorierend. »Ich geh dann mal weiter. Hat mich gefreut.«

Und damit spazierte Rapunzel zurück in den Wald. Sie sah noch einmal hinter sich, während die Frau ihre Leckereien lobte. Dann schüttelte die Bewohnerin den Kopf und war verschwunden. Rapunzel sah in ihre Hand und aß das kleine Stück vom Haus. Stimmt. Es war köstlich, viel besser als die Kuchen der Hexe.

Im Wald begann ihr Magen zu knurren und sie suchte sich ein paar Beeren. Plötzlich rannte ein kleines Männchen an ihr vorbei, schien sie verzögert zu bemerken und fiel auf die Nase, als es anhalten wollte. Die Spitzhacke, die der kleine Zwerg in der Hand hielt, verpasste den Kopf nur um Haaresbreite.

»Geht es dir gut?«, fragte Rapunzel den kleinen Mann.

»Ja, ja. Komm schnell, du musst uns helfen!« Blitzschnell war der Zwerg auf seinen Beinen und rannte davon. »Komm! Komm!«, rief er noch und Rapunzel spurtete hinter ihm her.

Nicht weit standen fünf weitere Zwerge und versuchten einen schweren Ast zu stemmen. Rapunzel hörte das Stöhnen sofort und rannte zu dem Ast. Da lag ein weiterer Zwerg, sein Bein eingeklemmt, die Augen rot vom Weinen.

»Was ist passiert?«, fragte Rapunzel.

»Was soll wohl passiert sein. Der Ast ist auf ihn herabgestürzt«. Sagte ein grimmig guckender Zwerg. Der älteste der Gruppe schüttelte den Kopf: »Ausgerechnet heute, an seinem Geburtstag.«

»Fass mit an, Bursche«, brüllte ein anderer Zwerg und Rapunzel schaute hinter sich, doch kein war Mann zu sehen. Sie seufzte. Schon wieder?

»Ich bin kein …«

»Auf drei! Eins, zwei, und los!«

Sie zogen alle an dem Ast, doch der war einfach zu schwer.

»Das geht so nicht«, sagte sie und der grimmige Zwerg schaute sie noch böser an. »Dann bist du ein schwacher Mensch, Bursche.«

»Ich bin kein Bursche!«

Und die Zwerge sahen sie überrascht an. Einer der Zwerge kicherte. »Ein Mädchen mit kurzem Haar.«

Haar! Das war es. »Wir brauchen ein Seil!«

»Sowas hier?«, fragte der kichernde Zwerg. Rapunzel nahm ihm das Seil aus der Hand, band es um den Ast und nutzte einen hängenden Ast, wie den Bettpfosten als Winde. Wenn sie mit diesem Trick die schwere Hexe tragen konnte, dann musste der Ast doch auch bewegbar sein.

Gesagt, getan und nun war es Rapunzel, die sagte: »Auf drei!«

Sie zogen alle an dem Seil und der Ast hob sich so weit, dass der Zwerg sein kleines Bein hervorziehen konnte.

»Sehr schlau, Bur…, ich meine Mädchen.«

»Rapunzel. Mein Name ist Rapunzel.«

Der alte Zwerg nickte und reichte ihr die Hand.

»Wie können wir uns dafür bedanken?«

»Sagt mir, wie finde ich aus dem Wald?«

Die Zwerge wiesen ihr den Weg zur Brücke, die aus dem Wald führte.

Mit geradem Rücken, die Brust herausgestreckt und einem Lächeln im Gesicht, erreichte sie die Brücke.

»Was willst du denn hier, Bursche?«

Rapunzel seufzte. Sie war es leid alle zu korrigieren. War es denn wirklich so ungewöhnlich, eine Frau mit kurzem Haar zu sein? Sie winkte innerlich ab, lächelte und antwortete mit der tiefsten Stimme, die sie aufbringen konnte: »Ich bin hier, um die Brücke zu überqueren, was glaubst du denn, Troll?«

Der Troll schniefte. »Das ist ja ein Ding. Das hab ich ja noch nie gehört. Ein Mensch, der meine Brücke überqueren will.«

Rapunzel zwinkerte verwirrt. »Aber da hinten«, sie zeigte auf einen Mann auf der Brücke, » da steht doch einer. Hat der etwa nicht gefragt?«

Die Pranke des Trolls klatsche lautstark auf seine Stirn. »Das war …«, er stöhnte, »ach, vergiss es.«

Rapunzel holte tief Luft, ließ die Antwort dann aber doch sein. Der Troll schien unter einem ähnlichen Problem wie sie zu leiden. Missverstanden zu werden. Ob sie ihm sagen sollte, dass sie eine Frau ist?

»Also, jeder, der über die Brücke will, muss mir etwas geben. Normalerweise nehme ich ja hübsche Prinzessinnen, aber heute habe ich ein anderes Problem.«

Prinzessinnen? Rapunzel schluckte. Nein, bloß nichts sagen.

»Du hast recht, da steht ein Mann. Und der will einfach nicht von meiner Brücke. Er hat in Gold bezahlt und ein Deal ist ein Deal.

Also kann ich ihn nicht verjagen. Wenn du es schaffst, ihn von der Brücke zu holen, dann lass ich dich leben. Schaffst du es nicht … nun ja, Männer schmecken zwar nicht so gut, wie Frauen, aber Essen ist Essen.«

Rapunzel schluckte und rannte an dem Troll vorbei auf die Brücke.

»Heda!«, rief Rapunzel, immer noch mit ihrer tiefen Stimme, aus Angst der Troll würde sie belauschen. Doch das Monster hatte es sich schon wieder unter der Brücke gemütlich gemacht und summte eine schräge Melodie.

»Hallo«, antwortete der Mann, sich halb auf das Brückengeländer stützend.

»Was führt dich auf diese Brücke?«

»Ach nichts«, er seufzte.

Nichts. Das hatte die alte Hexe auch immer gesagt und dann hatte sie stundenlang über das Land, die bösen Bauern in der Gegend oder einfach nur die Käferplage im Garten geredet. Rapunzel lernte schnell, es ist niemals Nichts. Mit der Zeit hatte sie immer weniger nachgefragt, was sie allerdings auch vereinsamte. Und nun stand ein Mann am Geländer und Rapunzel wollte alles über ihn wissen.

»Und warum verlässt du die Brücke nicht.«

»Wo soll ich denn hin? Zu Hause bin ich doch nur das Gespött aller Leute. Der Prinz, der keine Prinzessin findet. Meine einzige Hoffnung war, die Prinzessin im Turm.«

Rapunzel schluckte.

»Was?«, rutschte ihr in ihrer normalen Stimme heraus. Der Prinz drehte sich zu ihr um.

»Ich meine«, sagte die tiefe Stimme, »was? Welche Prinzessin denn?«

Der Prinz trug eine Brille mit dickem Rand, die Augen dahinter waren zugekniffen.

»Na Rapunzel. Alle sprechen von ihr. Und als ich endlich diesen verfluchten Turm gefunden und mich umständlich an ihrem Haar hochgezogen hatte, da seh ich nur eine weinende alte Hexe auf dem Bett liegen. Ernsthaft, wer baut denn bitte einen Turm ohne Tür?«

»Ich glaub der …« Verflixt! Wieder die hohe Stimme.

»Ja?« Die Augen gingen tatsächlich noch enger zusammen. Sah er sie denn überhaupt noch?

»Ich denke, die Tür wurde später zugemauert. Wegen der Fluchtgefahr und so.«

»Aha. Und woher weißt du das?«

Die ganze Trauer schien verflogen zu sein. Neugierde hatte dafür Platz gemacht. Rapunzel seufzte.

»Na rat mal«, sagte sie in ihrer normalen Stimme. Der Troll unter der Brücke hörte mit dem Summen auf. Sie zuckte zusammen.

»Los wir müssen hier weg.«

Die graue Hand des Trolls klammerte sich an das Geländer. Der Prinz nickte und sie rannten von der Brücke. Als sie sich umdrehten, lugte der Kopf des Trolls über das Geländer.

»Na endlich!«

Die beiden lachten.

»Und nun?«, fragte Rapunzel.

Der Prinz zuckte mit den Schultern.

»Na bei dir war ich schon. Darf ich dir mein Schloss zeigen?«

Sie lächelte und nickte.

»Du, aber eins musst du wissen. Ich bin nicht, wie die anderen Prinzen.«

»Dumm?«

»Fleischesser.«

»Das macht nichts, ich auch nicht.«

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann machen sie sich heute noch Salat. Nur Rapunzelsalat, den wollte sie nie wieder essen.

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