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Hannes Niederhausen

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Kurz

Kugeln krachten links und rechts an seinem Kopf vorbei, denen gerade noch ausweichen konnte. Er drehte sich nach links, lief den Gang herunter und kam kurz vor dem Abgrund wieder zum Stehen. Er schaute nach unten, es war eindeutig zu tief, er musste drüber springen, doch würde er die 5 Meter schaffen? Der namenlose Agent lief zurück, doch seine Verfolger waren schon bedrohlich nahe, als er endlich genug Abstand für einen vernünftigen Anlauf hatte. Er drehte sich um, und hörte, wie einer der Verfolger nachlud. Er rannte los, sprang und im gleichen Moment durchbohrte die Kugel seine Brust. Sein Sichtfeld wurde rot und er fiel.

Konrad lehnte sich zurück und fluchte. »Immer an der gleichen Stelle.« »Konni! Jetzt hör endlich auf und mach dich fertig.«

Konrad seufzte. Viel zu kurz. Wie sollte er bei so wenig Übung das Level schaffen? Er drehte sich mit seinem Stuhl und vorwurfvolle Blicke trafen sich zwischen ihm und seiner Mutter. Manchmal glaubte Konrad, Funken zu sehen. Dann zuckte er mit den Schultern und ging an ihr vorbei, Richtung Badezimmer. Im Gang war Susis Schluchzen schon zu hören. Er seufzte erneut, als er einen Blick durch den Spalt ihrer offenen Tür warf.

Susis Kopfkissen war schon ganz durchnässt von ihren Tränen. Sie wusste nicht, wann sie eingeschlafen war, doch lange konnte die Nacht nicht gewesen sein, eher viel zu kurz. Wenn sie nicht geschlafen hatte, hatte sie geweint und niemand hat sich um sie gekümmert. Sie schniefte erneut, als Mama durch die Tür kam und sich auf den Bettrand setzte.

»Liebes. Es wird wieder gut.«

Susi schniefte. »Wie soll das denn wieder gut werden?« Martin, dieser Blödmann. Sie hatten gestern ihr sechs-monatiges Jubiläum. Doch statt wie vereinbart mit ihr zu essen zu gehen, hatte er Schluss gemacht. Via WhatsApp! Susis Blick wandert zum Telefon auf dem kleinen Nachttisch. Sie traute sich nicht, es in die Hand zu nehmen.

»Komm, geh duschen. Wir müssen doch in einer Stunde los.«

»Juli ist dir immer wichtiger«, schmollt Susi, doch Mama antwortete nicht. »Tschuldigung«, murmelte Susi und kroch aus dem Bett und öffnete den Schrank. Welches Kleid sollte sie anziehen?

Karen ließ Susi zufrieden in ihrem Zimmer zurück. Nun konnte sie sich endlich um sich selbst kümmern. Markus saß bereits im Anzug auf der Couch und zappte durchs TV Programm. Sie war so froh, dass sie Markus nicht auch noch alles dreimal sagen musste. Sie ging durch ihr Schlafzimmer in ihr eigenes Bad und sah sich im Spiegel an. Kleine Fältchen zierten ihre Augen, sie lächelte müde und strich sich über das kurze Haar, das Markus so liebte. Sie selbst würde es ja lieber wieder wachsen lassen. Sie schminkte sich dezent und wählte das blaue Galakleid für die Abschlussfeier. Als sie sich im Spiegel betrachtete, pfiff Markus hinter ihr.

»Dann kann es ja losgehen«, sagte er, während er ihr über die nackten Arme strich und anschließend den Nacken küsste. Sie nickte und schob ihn sanft von sich. »Dann also los.« Er seufzte und trommelte die Kinder zusammen und wenige Minuten später saßen sie im Auto. Weitere dreißig Minuten saßen sie im Hörsaal der Schule und warteten, dass Julia, Karens Älteste ihr Abitur erhielt. Markus sah dabei immer wieder auf die Uhr.

»Wird es so knapp?«, fragte Karen ihren Mann und er nickte. »Es tut mir leid. Ich wollte ja die Schicht wechseln, aber es ging einfach nicht.«

»Sie wird es verstehen.«

»Nein, wird sie nicht. Das ist ein wichtiger Punkt in ihrem Leben. Die Schule ist vorbei. Schon bald wird sie erkennen, dass die Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, auf einmal nur ganz kurz gewesen zu sein scheint. Und bei dem Punkt sollte ihr Vater dabei sein.«

Markus drehte sich zum Ausgang des Hörsaals und seufzte. »Ich muss los. Tut mir leid«, sagte er zu Karen und küsste sie auf die Wange. Markus stand auf und war froh, dass er wenigstens den Platz direkt neben dem Gang hatte. Mit kleinen Schritten näherte er sich dem Ausgang. Kurz davor senkte er den Kopf und unterdrückte die Tränen. Was sollte er tun, seine Patienten brauchten ihn doch. Hinter ihm klatschten die Eltern der anderen Kinder. Markus schaute über die Schulter, die Direktorin tippte gerade auf das Mikrofon und begann ihre Rede. Von den Kindern war immer noch Nichts zu sehen.

»Papa!«, rief Julia vor ihm.

»Juli, was machst du denn hier, du musst doch auf die Bühne.«

»Nicht sofort und ich …« Sie rannte auf ihn zu und umarmte ihn. »Ich verstehe es. Das wollte ich dir nur sagen.« Jetzt konnte Markus die Tränen nicht mehr halten und Juli lachte. »Och Papa. Sei nicht so sentimental. Morgen hast Du doch frei, oder?« Er nickte. »Da gehen wir Frühstücken.«

»Also ich hab nach meinem Abiball erst mittags gefrühstückt, und zwar viel Wasser.«

Julia lacht und er spürte, wie ihre Fröhlichkeit auf ihn übersprang. »Ich verspreche dir, ich reiß mich zusammen. Ansonsten brunchen wir eben Wasser.«

Er lachte, während er sich die letzten Tränen von der Wange wischte. Juli horchte auf. »Oh Mist, jetzt muss ich aber doch.« Sie küsste Markus auf die Wange und rannte davon. Erleichtert verließ er die Schule und fuhr ins Krankenhaus.

Schwester Helga wartete bereits auf ihn. Mit einem Blick, der jedem sofort einen Kloß in den Hals drückte, reichte sie ihm wortlos eine Akte in die Hand. Hans Jäger. Markus schluckte, räusperte sich und sah ihr in die Augen. »Es ist soweit«, sagte sie in kaltem Ton. Wenn ihr Blick nicht wäre, könnte man meinen, Helga würde sich einen Dreck um den Tod eines Patienten scheren. Doch Markus wusste es besser. Es gab nicht viele Nächte, in denen sie sich nicht in den Schlaf weinte, das hatte sie ihm einmal anvertraut. Er wollte ihr helfen, doch er wusste doch nicht einmal, wie er sich selbst helfen sollte. Wenn seine Familie nicht wäre, die so viel Schönes in sein Leben brachte, würde er auch jeden Tag weinen. Helga war fast fünfzig Jahre alt und hatte ihren Mann in dieser Etage verloren. Krebs. Markus dankte ihr mit einem Nicken und schritt den Gang entlang bis Zimmer 502. Darin lag Hans Jäger, 78 Jahre alt, Lungenkrebs mit Metastasen in der Wirbelsäule und den Nieren.

Hans Jäger konnte das Piepen der Geräte um ihn herum gut ausblenden. Doch wenn er das tat, hörte er gar nichts mehr. Er drehte den Kopf zum Fenster und das Flimmern der rauschenden Blätter schmerzte in seinen Augen. Den Wind hören konnte er durch die schalldichten Fenster jedoch nicht. Niemand kam, um sich von ihm zu verabschieden. 78 Jahre und es fühlt sich so wenig, viel zu kurz an. Doch wollte er mehr Zeit? Er drehte den Kopf zur Tür, als das Klopfen durch die Stille schwang. Die Tür quietschte ein kleines bisschen, als der Arzt sie aufdrückte. Doktor Markus Irgendwas. Hans konnte sich nicht erinnern. Er versuchte das Namensschild auf dem Kittel zu lesen, als der sich neben ihm setzte und die Hand auf den Arm legte. Er konnte das Schild nicht entziffern.

»Wie lange noch?«, krächzte Hans und Doktor Irgendwas schüttelte den Kopf. »Wir können es nicht genau sagen. Aber es sind nur noch Stunden.«

Stunden. Was sollte er noch mit Stunden anfangen? Verglichen zu seinem Leben war das nichts und er konnte doch auch nichts mehr tun, nicht einmal ein verfluchtes Namensschild lesen. Hans schluckte, doch auch das schmerzte in seinem rauen Hals. Stunden. Warum nicht Minuten? Warum kamen ihm diese Stunden so lang und 78 Jahre so kurz vor? Er spürte, wie Tränen seine Wange herabliefen, doch er hatte keine Kraft sie wegzuwischen, er hatte nicht einmal Kraft zu blinzeln. Er schloss einfach die Augen und wartete. Die Hand auf seinem Arm verschwand. Das »Es tut mit leid« des Arztes donnerte durch die Stille und durchbrach seinen Hörfilter. Dahinter lauerten die Geräte, sie piepsten unentwegt. Piep, Piep, Piep.

Hans drückte die Augen zu. Er wollte wieder Ruhe, Stille wie eben noch. Warum musste der Arzt ihm das überhaupt sagen. Konnte er ihn nicht einfach sterben lassen?

Piep, Piep, Piep.

Dann wird es leiser, endlich Stille und für einen kurzen Moment hörte er das Rauschen der Blätter, mit denen der Wind spielt. Dann endgültige Stille.

Qrz knackte mit den Fingern und lehnte sich zurück, während der Monitor das Bild des alten Mannes ausblendete. Qrz grauer Kopf spiegelte sich auf dem Schirm, als das Spiel ihm mitteilte, dass es zu Ende sei. Spiel des Lebens wurde es genannt und doch war es viel zu kurz. Wie lange hatte er gespielt? Vierzig Stunden? Nicht einmal einen Tag. Er zuckte zusammen, als eine Hand sich auf die Schulter legte.

»Schon vorbei?«, fragte sein Vater. Er hatte ihm das Spiel geschenkt, und gesagt die Simulation zeige, wie das Leben auf der Erde sei. Qrz fand es langweilig, bedrückend. Alles war relativ und alles fanden sie zu kurz, egal wie lange es dauerte.

»War das menschliche Leben wirklich so?«

Sein Vater setzte sich neben ihn und verschränkte die dünnen grauen Arme. »Ich weiß es nicht. Warum beliest du dich nicht?«

»Nah. Zu wenig Zeit. Da kann ich doch schon das nächste Spiel spielen.«

Sein Vater erhob sich, schüttelte den Kopf und verließ Qrz‹ Raum.

»Essen ist fertig, komm, bevor es kalt wird.

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