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Hannes Niederhausen

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Der Zeitrecycler

Seit fünf Jahren arbeitete Frank hinter der Theke seiner eigenen Kneipe, und obwohl er schon allerlei merkwürdige Typen gesehen hatte, war der junge Mann, der an jenem Tag im Eingang stand, der Schrägste. Der Kerl lehnte in der Tür, die Nase rümpfend, und schien zu prüfen, ob die Kneipe seinen Ansprüchen genügen würde. Dann blickte er zu Frank, nickte leicht und ging zur Theke.

Frank zuckte mit den Schultern – es war wohl einer von der arroganten Sorte – und wischte weiter über die Theke, während er den Kerl aus dem Augenwinkel auf sich zukommen sah. Verwaschene Jeans, ausgelatschte Schuhe und ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift »Ich bin der Tod«.

Der Mann setzte sich, bestellte ein Bier. Nachdem Frank es vor ihn gestellt hatte, begann er sogleich, Gläser zu polieren. Dabei schaute er in Richtung seiner Stammgäste, die immer den letzten der fünf Tische besetzten.

»Wissen sie, was Zeit ist?«, fragte der Kerl und Frank blickte überrascht zu ihm rüber.

»Zeit ist endlich. Wussten Sie das? Also nicht die Zeit an sich, aber die Zeit, die jeder Mensch hier auf Erden verbringen darf. Zeit im Sinne von Lebensenergie, verstanden?«

Frank hob eine Augenbraue. Jeder musste sterben, was für eine Neuigkeit.

»Die Zeit fließt in Uhren für jeden Menschen. Stellen sie sich einfach Sanduhren vor, und alle stehen auf dem Regal des Lebens.

»Und wenn dann die Zeit eines Menschen durchgelaufen ist«, fuhr der Mann fort, »dann muss sie zurück ins Zeitdepot gebracht werden und das mache ich. Verstanden? Vom Zeitdepot kann sie dann wieder einem anderen Menschen zugewiesen werden.«

»Na sowas, n Zeitrecycler«, sagte eine raue Stimme am Stammtisch und der Rest fing an zu lachen. Frank erkannte Walther und sah ihn böse an. Der dicke Mann machte eine entschuldigende Geste und der Barkeeper richtete seinen Blick wieder auf den jungen Gast, der sich zu Walther umdrehte.

»Ihr findet das wohl lustig? Ich hab’s langsam satt, dass mir kein Mensch glaubt. Ich werde es beweisen, wartet ab.«

»Ach ja, und wie?«, fragte Manfred. Der Alte saß immer neben Walther.

»Ich arbeite einfach ein paar Tage nicht. Dann werdet ihr schon sehen, was passiert. Und dann kapiert ihr, dass ihr mich braucht.«

Frank sah den Kerl an der Theke argwöhnisch an, doch dieser leerte sein halb volles Bier in einem Zug, drehte sich noch einmal zum Stammtisch um und sah Manfred mit erhobenem Zeigefinger an, als würde er sich an etwas erinnern.

»Ah Manfred. Tut mir leid. Du wirst es wohl nicht mehr erleben. Deine Zeit ist fast abgelaufen.«

Mit diesen Worten legte der Kerl fünf Euro auf die Theke und verließ das Lokal. Der Rest des Stammtischs starrte mit offenem Mund zu Manfred. Der blickte Frank fragend an und sagte: »Was … was soll das heißen? Und woher kennt der Typ meinen Namen?«

»Beruhig dich!«, sagte Walther und klopfte auf Manfreds Schulter. »Der spinnt doch. Den Namen wird er eben aufgeschnappt haben.«

»Naja, ich weiß nicht …«

Auch Frank war sich nicht sicher.

Am nächsten Tag saßen Walther, Hermann und Fritz an ihrem üblichen Platz. Die Stimmung war betrübt. Manfred fehlte. Niemand wusste weshalb, und niemand traute sich, ihn anzurufen.

Frank polierte wieder Gläser, als Walther eine Stunde später zum Handy griff. Es klingelte eine gefühlte Ewigkeit. Frank stand wie angewurzelt mit dem Glas in der einen und dem Poliertuch in der anderen Hand und starrte auf Walther. Dieser sagte endlich: »Hallo?

Wer is’n da? Gertrud? Hier is Walther … ja genau … was? Was is passiert? Oh Gott. Das tut mir leid. Nee, ich wusste es noch nicht. Oh … ja … ja danke. Ja dir auch.« Alle starrten den kreidebleichen Mann an. »Manfred is tot. Wie der Typ gestern gesagt hatte. Busunfall. Scheiße.«

Frank stellte das Glas ab und brachte jedem ein Glas Korn. »Das ist sicher nur ein Zufall gewesen. Macht euch nicht verrückt.«

Die drei Stammgäste nickten nur und Frank ging zurück Gläser polieren. Kurze Zeit später kam der Kerl herein, setzte sich auf denselben Barhocker wie am Vortag und bestellte ein Bier.

Frank stellte das Getränk auf die Theke und teilte ihm mit, dass Manfred tot sei. Der Kerl nickte wissend und nippte an seinem Getränk.

Für ein paar Minuten war es totenstill in der Bar. Als der Typ sein zweites Bier bestellte, setzte sich Walther neben ihn.

»Woher hast du’s gewusst, hm? Woher hast du von Manfreds Tod gewusst? Hast du ihn selbst vor den Bus geworfen oder was?«

Der Kerl sah ihn verwundert an. »Habe ich doch schon gesagt. Seine Zeit war abgelaufen. Ich sollte seine Lebensuhr leeren. Bei uns gibt es einen Wochenplan. Da steht drauf, welche Uhren so gut wie abgelaufen sind und geleert werden müssen.«

»Blödsinn! Es gibt keine Lebensuhren. Du bist n Spinner, das is alles. Du erzählst Scheiße! Wer is’n der Nächste? Ich? Hermann da? Hermanns Frau bekommt jede Minute n Baby, da wär’s doch lustig, wenn er vorher abnibbelt, oder?«

Frank stellte dem Mann das Bier hin und ging um die Theke, um Walther zu beruhigen.

»Komm Walther, setz‹ dich zurück! Es war doch nur ein Zufall.«

»Zufall? Ernsthaft? Gut, dass ich meine Arbeit heute nicht gemacht habe. Zufall!«

Der Typ stand auf, ließ sein Bier stehen und verschwand, ohne zu bezahlen.

Walther setzte sich zurück zu den anderen.

Hermann räusperte sich. »Als du gefragt hast, ob ich der Nächste bin, hab ich eine Gänsehaut bekommen. Mach das nie wieder, Walther.«

»Mensch Hermann, das war sicher nur n Zufall. So was wie Lebensuhren gibt’s doch gar nicht. Und dass wir alle mal sterben müssen, is doch klar.«

»Naja, unheimlich ist es schon. Hoffentlich kommt der Typ nie wieder.«

Frank griff zum nächsten Glas, hob es an und stellte es wieder zurück. Wenn er weiter so polierte, dann machte er noch Löcher in die Gläser. Er sollte sich dringend eine andere Beschäftigung suchen.

Die folgenden zwei Tage verliefen ruhig und ereignislos in Franks Stübchen. Der merkwürdige Kerl ließ sich nicht blicken. Einen weiteren Tag später ging eine Meldung durch alle Medien: den ganzen Tag schon weltweit nur Totgeburten.

Keiner konnte sich das erklären. Man vermutete eine Epidemie.

Frank war seit 16 Uhr in der Bar und polierte sinnlos Gläser. Sollte der Typ die Wahrheit gesagt haben und jetzt war die Zeit alle? Ganz glauben wollte er es nicht, doch das mulmige Gefühl ließ ihn nicht los. Er hoffte, dass bald jemand kommen würde. Aber erst zwei Stunden später betrat Walther sichtlich aufgelöst die Bar. Er setzte sich an den Stammtisch und bestellte ein Bier.

»Hermann rief mich vorhin an und sagte Helga sei in den Wehen. Im Moment ist’s wohl soweit. Was is, wenn seinem Kind auch was passiert. Was is, wenn wir schuld an alle dem sind?« fragte Walther, als Frank das Bier brachte.

»Du meinst, die Lebensuhr des Kleinen wird nicht aufgefüllt? Komm schon, Walther, was ist aus ›Der spinnt doch!‹ geworden.«

»Hast du keine Nachrichten gesehn? Das is wie ne Seuche. Den ganzen Tag ist kein einziges lebendiges Kind auf die Welt gekommen.«

Frank stellte ihm das Bier auf dem Tisch.

»Das weißt du doch gar nicht. Sie dramatisieren das nur in den Medien.«

»Glaubst du? Ich denk, wenn’s wieder ein lebendiges Kind gäbe, würden sie’s sagen. Das wär schließlich was Aufbauendes.«

Walther griff nach seinem Bier, und als er es ansetzen wollte, öffnete sich die Tür und ein bedrückter Hermann kam herein.

»Tot! Wie alle anderen tot«, murmelte er immer wieder, während er sich auf einen Stuhl nahe der Tür fallen ließ. Er begann zu weinen. Frank sah Walther an, der schüttelte nur den Kopf und setzte sich Hermann gegenüber, während Frank zwei Gläser und eine Flasche Korn aus dem Regal nahm und alles auf den Tisch stellte. Ihm fehlten die Worte.

Frank drehte sich um, ging zur Theke und griff erneut zu seinem Spültuch. Er nahm irgendein Glas aus dem Regal und begann, zu polieren.

Walther füllte die Gläser, nahm eins und automatisch griff Hermann zum anderen. Die Tür wurde geöffnet, als Walther nachschenkte.

Der Zeitrecycler kam nur einen Schritt weit. Dann stellte Walther sich ihm in den Weg und schrie: »Raus! Mach, dass du Land gewinnst!«

Der Mann wirkte für ein paar Sekunden verwirrt, dann lächelte er.

»Glaubt ihr mir jetzt. Seht ihr, wie wichtig ich für die Welt bin?«

Walther ging einen weiteren Schritt auf den Zeitrecycler zu. Die Gesichter der beiden waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt.

»Ja, wir glauben dir. Und jetzt mach deinen verdammten Job, damit diese Uhren aufgefüllt und die Kinder lebendig werd’n.«

Walther sagte es ruhig mit bebenden Fäusten an den herunterhängenden Armen. Sein Gegenüber schien das auch zu bemerken, denn er ging zwei Schritte zurück.

»Tut mir leid. Die Kinder, die bereits auf die Welt kamen, können nicht mehr lebendig werden. Ich kann aber dafür sorgen, dass wieder Zeit zur Verfügung steht.«

Walther sah zu Hermann und der Zeitrecycler folgte seinem Blick.

»Oh, Hermann. War heut wohl so weit. Tut mir wirklich leid. Ihr hättet euch nicht über mich lustig machen sollen. Ich musste es euch eben beweisen.«

Hermann sah auf und starrte den Zeitrecycler ungläubig an. Noch bevor jemand reagieren konnte, sprang er auf, nahm die Flasche und schlug sie dem Zeitrecycler über den Schädel. Der Kerl stürzte auf den Boden, Blut lief auf die Dielen. Frank stand regungslos da, Walther sah Hermann entsetzt an. Er sprach wie in Trance: »Hermann, was hast du getan? Wer soll’n jetzt die Uhr’n leeren?«

Hermann setzte sich wieder und starrte auf den toten Körper. Keiner sagte etwas.

»Das gibt’s doch nich. Der verschwindet!«, sagte Walther.

Frank starrte auf den sich auflösenden Körper. Innerhalb von wenigen Sekunden waren Leiche und Blut verschwunden. Auch die Flasche war sauber, stellte Frank fest.

Für eine Weile sagte niemand etwas. Hermann löste sich zuerst aus der Starre und sagte: »Muss los«, und ging.

Frank schloss die Kneipe an diesem Abend früh und trank mit Walther. War dies das Ende der Menschheit?

»Vielleicht gibt’s bald nen neuen Zeitrecycler«, sagte Walther.

»Hoffen wir es.«

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