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Hannes Niederhausen

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Das Ultimatum

Sarah stößt mit dem Kopf an die Decke, als der kleine Transporter seine ungewollte Schwebeinlage am Ende des Kraters beendet. Sie reibt sich den Kopf und hofft, dass die Achsen das alles ausgehalten haben. Sollte sie langsamer fahren? Sie sieht auf die Uhr: Sie hat noch vier Stunden und das Navigationsgerät sagt ihr, sie würde in einer Stunde in der Beta-Kolonie ankommen. Sie bremst etwas, und die Reisezeit verlängert sich um eine halbe Stunde. Besser so, als gar nicht ankommen. Außerdem kann sie die zusätzlichen dreißig Minuten gut gebrauchen. Was sollte sie den Bewohnern nur sagen? Wie sollte sie sie überzeugen? Nicht zum ersten Mal überkommt sie die Welle der Verzweiflung, die Unmöglichkeit ihrer Mission.

Noch vor drei Tagen war sie die Leiterin der Alpha-Kolonie, manch einer nannte sie Bürgermeisterin, aber sie mochte den Titel nicht. Viel zu meistern gab es auch nicht, nicht einmal zu koordinieren. Einhundertundzwanzig Menschen lebten unter der Kuppel, die sie nun schon seit neunundzwanzig Jahren ihr Zuhause nannten. Menschen unterschiedlicher Nation und Rasse haben sich zusammengetan, erst zu überleben und später ein Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln. Nun waren sie die Alpha-Kolonie. Ähnlich muss es den Menschen der Beta-Kolonie ergangen sein. Sarah hatte nie verstanden, warum sich die Menschen der beiden Kolonien niemals zusammengerauft hatten. Vielleicht war es eine der Bedingungen der Entführer. Was wusste sie schon. Niemand sprach von der Zeit, als ihre schwangere Mutter verschleppt wurde.

Sarah saß in ihrem Büro, als die Nachricht auf ihrem Monitor aufleuchtete. Die Entführer brachten in unregelmäßigen Abständen Hilfsmittel, wie elektrische Geräte, Ersatzteile und ab und zu auch Lebensmittel, die sie in der Kolonie nicht herstellen können. Wann hatte Sarah das letzte Mal Schokolade gegessen? All die Lieferungen wurden mit einer Nachricht angekündigt, ihr Inhalt aber immer eine Überraschung. Manchmal brachten sie tatsächlich noch neue Menschen von der Erde. Sie zu integrieren war Sarahs schwerste Aufgabe. Die Bürgermeisterin tippte auf den Bildschirm, um die Nachricht zu öffnen und erstarrte, als der Text zu sehen war. Das konnten sie doch unmöglich verlangen!

Noch dreißig Minuten bis zum Ziel. Sarah atmet tief durch, sie hat immer noch keine Ahnung, was sie sagen, wie sie die Menschen überzeugen soll. Im Grunde ist es doch nur eine einfache Gleichung. Ein … plötzlich kracht etwas unter ihr und die Fahrerkabine fällt links ab. Was denn jetzt? Sie hat doch nur noch drei Stunden. Ein Kreischen schreckt sie vollends auf, es ist das Metall der linken Seite, was auf den harten Steinboden reibt. Sarah kann Funken sehen. Sie bremst und klettert auf der rechten Seite heraus.

Die vordere der drei Achsen ist gebrochen, und das linke Rad ist verschwunden. Sarah rauft sich die Haare. Dreißig Minuten mit dem Transporter, das heißt, sie hat noch ungefähr acht Kilometer zu gehen. Das ist zu schaffen. Wenn ihr nichts geschieht. Sie klettert zurück in die Kabine, holt ein Notfallset mit Wasser, etwas Nahrung und ein Funkgerät heraus. Kurz überlegt sie, ob sie zuhause bescheid sagen sollte, aber nein. Sie machen sich schon genug Sorgen. Alle Hoffnung liegt auf ihr und ihnen nun von dem Unfall zu berichten, würde diese nur weiter schmälern. Sie trinkt einen Schluck Wasser, sieht auf den im Funkgerät integrierten Kompass und läuft los. Drei Stunden. Sie muss es schaffen. Acht Kilometer in dieser unwirschen Gegend würden zwei bis zweieinhalb Stunden bedeuten. Das war ihre letzte Chance, ein schlagkräftiges Argument zu finden.

Sie hatten zwei Tage gewartet, bis sie den Entschluss fassten, Kontakt mit der Beta-Kolonie aufzunehmen. Sarahs Hals schnürte sich zu, als der Älteste Korgen es vorschlug, schließlich hatte man seit zwanzig Jahren keine Nachricht mehr von der anderen Kolonie empfangen. Die Entführer hatten es verboten, oder nicht?

»Es war nie ein eindeutiges Verbot, nicht für uns. Ich weiß nicht, ob die Anderen eines erhalten haben, wir jedenfalls nicht. Sie hörten einfach auf, uns zu antworten und wir hörten irgendwann auf, zu senden. Aber wir selbst wurden nie bestraft, wenn wir sie riefen.«

Vor zwanzig Jahren war Sarah neun und hatte nicht viel von der Koloniepolitik mitbekommen. Doch nun war sie Bürgermeisterin und es erschreckte sie, dass sie nicht einmal daran gedacht hatte, die Anderen zu kontaktieren, nach ihrem Wohlbefinden zu fragen und ob sie Hilfe brauchten. Es war, als hätte es die andere Kolonie nie gegeben – bis jetzt. Sarah stimmte zu und Korgen begleitete sie zu einem kleinen Häuschen mit einer zehn Meter hohen Antenne darauf. Diese Antenne hatte vor zwei Tagen sowohl das Ultimatum als auch die Bestätigung, dass die Beta-Kolonie eine Kopie erhalten hatte, empfangen. Das Haus war immer mit einer Person besetzt, zwei konnten sich gerade so bequem setzen, zu dritt war es einfach zu eng. Es roch nach dem Schweiß des Funkers und Sarah fragte sich, ob ihm warm war oder er einfach nur Angst hatte. Der Mann tippte ein paar Zahlen in das Gerät und reichte Sarah das Stabmikrofon.

»Die sollten dich jetzt hören. Einfach da auf den Knopf drücken, wenn du reden willst.«

Der Schalter klickte und Sarah sah in die erwartungsvollen Gesichter ihrer Mitbewohner. Sie schluckte und sprach: »Hallo. Hier ist Sarah Jung. Ich bin die Bürgermeisterin der Alpha-Kolonie. Wie wir haben Sie vor zwei Tagen das Ultimatum der Entführer erhalten.« Sie schluckte. Wie sollte sie den nächsten Satz aussprechen? Warum taten die Entführer ihnen das an?

»Ich weiß«, fuhr sie mit krächzender Stimme fort, »was von Ihnen verlangt wird, ist eine unmögliche Aufgabe, doch wir bitten Sie inständig, darüber nachzudenken. Die Alpha-Kolonie besteht aus einhundertundzwanzig Menschen. Darunter vierundzwanzig Kinder. Ich weiß nicht, wie sich ihre Kolonie entwickelt hat. Ich weiß nicht, warum wir den Kontakt verloren haben, warum sie nicht …«

Sie hielt inne. Vorwürfe zu machen, würde die Entscheidung nicht zu Gunsten der Kolonie lenken.

»Bitte.« Tränen liefen ihre Wangen herunter. »Bitte, lenken Sie ein. Tun Sie es für ihre Mitmenschen. Es ist doch …« Ihre Stimme versagte. Sie ließ den kleinen Schalter los und schluchzend wartete sie auf eine Antwort. Vergeblich.

Endlich ist die Kuppel der Beta-Kolonie zu sehen. Sarah hat Tränen in den Augen, jeder Schritt schmerzte in den Füßen und das Schlimmste war, sie weiß immer noch nicht, wie sie die Kolonisten überzeugen soll.

Die Kolonie vor ihr ist identisch mit ihrer eigenen aufgebaut. Es gibt genügend Schleusen, um die Kuppel zu betreten, keine Sicherheitsvorkehrungen. Wovor sollen sie sich auch schützen. Am Rand der Kolonie befinden sich Felder, auf denen drei Kinder spielten. Drei Kinder. Nur eines, dann wäre … ein Kind schreit auf und läuft davon. Die anderen beiden, ein Junge und ein Mädchen, sie könnten Zwillinge sein, stehen einfach nur da und starren sie an. Sarah hebt einen Arm, erst jetzt bemerkt sie, wie dreckig ihr weißer Anzug geworden ist. »Hallo. Ich bin Sarah. Wer seid ihr?«

»Sie dürfen hier nicht sein!«, schreit das Mädchen und läuft ebenfalls davon. Der Junge bleibt stehen. »Ich bin Jonas.«

»Hallo Jonas.« Ein paar Erwachsene tauchen auf dem anderen Ende des Feldes auf. Eine Frau ruft: »Jonas, komm augenblicklich her. Rede nicht mit der Frau, es ist verboten!« Doch der Junge bleibt wie angewurzelt stehen. »Jonas!« Die Frau wedelt mit den Armen, als könnte sie damit den Jungen aus seiner Trance befreien. Dann schreit sie Sarah an. »Fassen Sie meinen Sohn nicht an!« Sie stellt sich nach Luft ringend schützend vor ihm.

»Ich hab doch gar nichts …«

»Verlassen sie augenblicklich unsere Kolonie.«

Ein älterer Mann hat sich zu ihnen gesellt. Er legt der Frau die Hand auf die Schulter. »Beruhige Dich Karen. Das sollten wir nicht in der Öffentlichkeit bereden, denkst du nicht auch.« Die Hand scheint zu wirken. Die Frau nickt und deutet Sarah den Weg in die Kolonie.

Sarah fühlt sich, als laufe sie durch ihre eigene Kolonie, alles ist so gleich und doch die Menschen, die sie verwundert ansehen, kehrten die Wirkung um. Sie ist eine Fremde unter Fremden und das Leben ihrer Familie und Freunde ist von ihnen abhängig. Die Menschen sehen sie verwundert an, als wüssten sie nicht, warum sie hier ist.

»Weiß jeder von dem Ultimatum?«, fragte sie endlich. »Pst«, zischte Karen sie an. Sie hätte auch einfach nein sagen können. Sarahs Herz setzte für einen Schlag aus und ihre ganze Hoffnung strömte aus ihrem offenen Mund. Sarah sieht auf ihre Uhr, die Kolonie, die Menschen hatten sie völlig die Zeit vergessen lassen und tatsächlich, es sind nur fünf Minuten, bis zum Ende des Ultimatums. Sie schluckt.

»Wer ist das?«, raunt eine männliche Stimme, noch bevor ihr Ursprung, ein Mann in den Dreißigern, aus dem Kommunikationshaus kommt. »Sagt mir nicht, dass sie …« Karen nickt und der Mann stöhnt auf.

»Glauben Sie wirklich, sie können uns dazu überzeugen, eines unserer Kinder zu opfern? Einfach so?«

»Nein«, Sarah räusperte sich, »nein, bitte es ist doch nicht einfach so. Es leben einhunderzwanzig Menschen in meiner Kolonie.«

»Genau wie hier. Würden Sie das Gleiche für uns tun?«

Das hatte Korgan sie auch gefragt, kurz bevor sie losgefahren war und tatsächlich weiß sie immer noch keine Antwort. Sie sieht auf den Boden, ihre Sicht verschwimmt, Tränen laufen ihre Wangen herunter.

»Es tut mir leid«, sagt Karen und legt ihr eine Hand auf die Schulter. »Aber wir können diese Entscheidung einfach nicht fällen. Hier leben dreißig Kinder. Wer soll seins opfern? Und wie soll man das den Kindern klar machen. Wir dürfen ja nicht einmal mit euch reden.«

Sarah sieht auf. Also hatten sie tatsächlich eine Kommunikationssperre erhalten. Die Erkenntnis hilft jetzt auch nicht. Sie sieht auf die Uhr. Noch zwei Minuten. Sarah schaut zurück, in die Richtung aus der sie gekommen war. Es war vergebens. Sie werden alle sterben. Ein Schatten taucht hinter einer der kleinen Wohnbarracken auf. Es ist der Junge, Jonas. Jonas, wenn er stirbt, dann ist ihre Heimat gerettet. Jonas läuft auf seine Mutter zu und Sarah rennt los, stürzt den Jungen zu Boden und beginnt, ihn zu würgen. Der Junge schlägt um sich, doch Sarah fühlt die Schläge nicht. Sie hört den Knall auch nicht und erst langsam fühlt sie die Wärme an ihrem Rücken. Karen stößt sie zur Seite, nimmt ihren Sohn in den Arm, der Sarah auf dem Boden völlig verstört ansieht. Im Horizont erscheint ein greller Blitz, kurz gefolgt von einem tosenden Donner. Das Ende der Alpha-Kolonie.

»Es tut mir leid«, haucht Sarah, als sie die Augen schließt.

 

***

Der Forscher nimmt seine Hand vom Schalter und schaut auf den Krater, den seine Fusionsbombe hinterlassen hatte. Neben ihm steht sein Kollege und schüttelt den Kopf.

»Ich verstehe nicht, warum die Menschen sich immer mit einem Ort identifizieren müssen.«

Auf einem der Monitore steht: »Experiment 254: An alle Menschen in den Kolonien. Höret unsere Worte. Bewohner der Beta-Kolonie, Ihr habt drei Tage ein Kind auszusuchen und es öffentlich zu töten, oder wir zerstören die Alpha-Kolonie.«

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